Was ist Biodiversität?
Biodiversität beschreibt die biologische Vielfalt auf mehreren Ebenen: auf genetischer Ebene, auf Art-Ebene und auf ökologischer Systemebene. (D. L. Hawksworth (1996). „Biodiversity: measurement and estimation“. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences. 345 (1311). Springer: 6. doi:10.1098/rstb.1994.0081.)
Sie ist also vielschichtig, kann (und muss) von verschiedenen Perspektiven aus betrachtet werden. Viele unterschiedliche Bewertungskriterien des Naturschutzes (z.B. Artenvielfalt, Vollständigkeit von Lebensgemeinschaften, Seltenheit, Belastbarkeit etc.) nähern sich aus unterschiedlicher Perspektive der Bewertung der Biodiversität an einem Ort an.
Die komplexen Wechselwirkungen, die auf genetischer, Art- oder Systemebene durch geringfügige Veränderungen ausgelöst werden, sind noch längst nicht alle erforscht. Eine „einfache“ Quantifizierung von Biodiversität ist daher kaum möglich.
Gleichzeitig gibt es viele Gestaltungsformen von Agroforstsystemen – angefangen bei der Ausrichtung und Breite der Gehölzstreifen über Art- und Sortenauswahl der Gehölze bis hin zu unterschiedlichen Pflegemaßnahmen an Bäumen, Sträuchern und Unterbewuchs.
Es gibt also weder „die eine Biodiversität“, noch „das eine Agroforstsystem“, die es in ihren Wechselwirkungen zueinander zu erforschen gilt.
Bäume auf einem Acker?
Drei Vorteile für die biologische Vielfalt!
Wie genau die biologische Vielfalt gefördert werden kann, hängt von der jeweiligen Landschaft ab. Generell kann man jedoch sagen, dass es auf fast jedem Acker oder Grünland drei gute Gründe gibt, wieso ein Agroforstsystem durch die Strukturierung der Landschaft die biologische Vielfalt fördern kann.
Agroforst ist abwechslungsreich
Wertvoll ist nicht nur die biologische Vielfalt in Agroforstsystemen an sich, sondern auch die Tatsache, dass viele (früher häufige) Tierarten der Kulturlandschaft von ihnen abhängen. Ein landwirtschaftliches Ökosystem erhält durch die Baumreihen mehr Vielfalt an kleinräumigen Strukturen. So entstehen auf dem Acker kühlere und wärmere Bereiche, Zonen mit unterschiedlicher Bodenbearbeitung, im Baumstreifen ein Kronenbereich und weitere Variationen auf einer zuvor meist einheitlichen Fläche. Die Abwechslung der Strukturen verleiht mehr Pflanzen und Tieren eine eigene ökologische Nische. Im Folgenden werden fünf Beispiele genannt:
- Verschiedene Vogelarten benötigen Gehölze in einer ansonsten offenen Agrarlandschaft, um brüten, singen oder jagen zu können und sich zurückzuziehen, so zum Beispiel der Neuntöter oder der Ortolan.
- Viele Fledermäuse können sich mit ihrer Echo-Ortung nur dort orientieren, wo es auch leitende Elemente wie Hecken oder Baumreihen gibt.
- Etliche Wildbienenarten und andere Bestäuber benötigen in ihrem Lebensraum pollen- und nektarliefernde Pflanzen als Nahrungsquelle sowie offenen Boden oder Stängel, in die sie ihre Eier ablegen können. Eine günstige Kombination zur Erfüllung ihrer Lebensraumansprüche findet sich häufiger in abwechslungsreichen Ökosystemen.
- In dicht eingesäten und intensiv bewirtschafteten Äckern haben Beikräuter oft keine Überlebenschance. Wertvoll ist nicht nur ihr Beitrag zur Pflanzenvielfalt, sondern auch die Tatsache, dass viele (früher häufige) Tierarten und Bestäuber der Kulturlandschaft von ihnen abhängen. Eine zweite Chance erhalten diese Nahrungsnetze zwischen den Bäumen der Agroforstwirtschaft.
- Regenwürmer sind Stellvertreter für viele weitere bodenlebende Organismen. Oft sind ihre Populationen durch Pflügen oder Grubbern dezimiert. In den Agroforst-Reihen dagegen fällt die Störung des Bodens weg, und zusätzliches Laub schützt und bringt Futter für die Würmer.
Die Abwechslung von Strukturen kann bestehende Vorkommen von Arten schützen und neuen Arten einen Lebensraum bieten. Im Falle einer Kombination aus extensiver Landwirtschaft und hochwertiger Gestaltung der Gehölzstreifen ist sogar die Förderung von gefährdeten Arten möglich.
Agroforst ist anschlussfähig
Eine Naturschutzmaßnahme ohne Anschluss an benachbarte Lebensräume ist oft von ihrer eigenen Isolation gefährdet. Das liegt daran, …
… dass die Bestände an zu schützenden Tier- und Pflanzenarten darin keinen genetischen Austausch nach außen haben. Durch die Fortpflanzung unter wenigen Vertreter*innen einer Art kommt es zur genetischen Verarmung, was sie anfälliger gegenüber Krankheiten macht.
…dass auch die einzelnen Lebewesen bei Störung oder Stress in andere schützende Räume ausweichen können müssen. Wenn die Gefahr vorüber ist, können sie ihr Habitat wieder neubesiedeln.
… dass viele Arten größere Lebensräume benötigen, als wir ihnen durch einzelne Naturschutzmaßnahmen ermöglichen können. Zum Beispiel liegen die Jagd- und Schlafquartiere von Fledermäusen häufig kilometerweit voneinander entfernt.
Entscheidend für die Förderung der biologischen Vielfalt auf der Landschaftsebene ist also neben der Qualität der einzelnen Lebensräume (die oben beschriebene „Abwechslung“) vor allem der Anschluss dieser Biotope aneinander. Durch Wanderungskorridore (länglich) oder Trittsteinbiotope (fleckenhaft) können solche Anschlüsse und Vernetzungen wertvoller Lebensräume entstehen. Die Korridore und Trittsteinbiotope bieten aufgrund ihrer Größe für viele Arten nicht den ausreichenden Platz für den Erhalt der ganzen Lebensgemeinschaft einer Art, stellen aber einen lebenswichtigen Bestandteil ihres Verbreitungsgebiets dar. Die zu fördernden Lebewesen können sich dort stärken und kurzzeitig in ihnen leben oder an ihnen entlangwandern, um den Weg in einen neuen Lebensraum zu finden.
Die Bedeutung des Verbunds von Lebensraumstrukturen wird in der Agrar-Ökologie schon lange erforscht und folgendermaßen veranschaulicht:
„Wird die durchschnittliche Feldgröße von rund 5 auf 2,8 Hektar verkleinert, hat das den gleichen positiven Effekt auf die Biodiversität, als würde der Anteil naturnaher Lebensräume von 0,5 auf 11 Prozent vergrößert“ (Grass & Tscharntke 2020).
Die Baumstreifen von Agroforstsystemen imitieren diese Kleinstrukturiertheit und stellen damit Wanderungskorridore dar. Wenn ein Agroforstsystem als Ganzes ökologisch wertvoll gestaltet ist, kann es also auch als Trittstein für viele weitere Arten fungieren.
Anschlussfähigkeit bezieht sich darüberhinaus auch auf den landwirtschaftlichen Betrieb mit seinen Betriebszweigen: Die Nutzung der Gehölze und daraus entstehende Produkte können eine betriebswirtschaftliche Diversifikation bedeuten. Ein neues Standbein kann das unternehmerische Risiko weiter streuen und den Betrieb so resilienter machen.
Nicht zuletzt ist Anschlussfähigkeit auch eine Brücke: Agroforstsysteme sind prinzipiell auf allen Betriebsformen umsetzbar, unabhängig davon ob der Betrieb “konventionell” oder “ökologisch” wirtschaftet. Durch hochwertige Umweltleistungen, die relativ niedrigschwellig in einen Hof integriert werden können, wird zusätzlich die gesellschaftliche Lücke zwischen “Landwirtschaft”, “Verbraucher*innen” und “Naturschutz” verringert.
Agroforst ist ausdauernd
Landwirtschaftliche Flächen dienen primär der Lebensmittelerzeugung, daher sind Naturschutzmaßnahmen auf ihnen meist in (relativ gesehen) kurzfristige Fruchtfolgen integriert. Der ökologische Mehrwert ist dementsprechend auf wenige Jahre begrenzt. Viele Tier- und Pflanzenarten sind an diese schnelle Dynamik zwischen Neubesiedlung von Lebensräumen und ihrem Verlust nicht angepasst.
In den historischen Kulturlandschaften gab es für Arten, die heute selten geworden sind, Rückzugsorte an Feldrändern und in Hecken. Diese stabilisierten den Artbestand langfristig. Für die alten Agroforst-Strukturen (Wallhecken, Streuobstwiesen, Waldweiden, etc.) wurden allerdings in den vergangenen Jahrzehnten keine wirtschaftlich erfolgreichen und ökologischen Folgemodelle entwickelt.
Heute gelingt in modernen Agroforstsystemen etwas beinahe Einzigartiges: Die Baumstreifen werden für Jahrzehnte geplant und angelegt – im Falle einer Wertholzproduktion übersteigt ihr Fortbestehen häufig 60 Jahre. Das sind Jahrzehnte für die Förderung der biologischen Vielfalt!
Ein landwirtschaftlicher Betrieb hat ein großes ökonomisches Interesse daran, dass die Gehölzreihen (und damit automatisch alle von ihnen profitierenden Tier- und Pflanzenarten) über die gesamte Zeit erhalten und gut gepflegt werden. So werden ausdauernde Landwirt*innen zu ausdauernden Naturschützer*innen.
Was bewirkt Agroforstwirtschaft?
Der Beginn einer Reise von Naturschutz und Landwirtschaft …
Agroforstsysteme sind abwechslungsreich, anschlussfähig und ausdauernd. Jeder diese „per se“-Vorteile kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein, je nachdem, welche Entscheidungen diesbezüglich in einem Agroforst-Betrieb getroffen werden. In „Bäume auf den Acker“ werden unterschiedliche Gestaltungsformen von Agroforstsystemen erprobt, ihre Auswirkungen auf die biologische Vielfalt erforscht und Bildungsmaterialien fü ein besseres Verständnis der Prozesse entwickelt. Gemeinsam mit den Demonstrationsbetrieben wird durch Veröffentlichungen und Veranstaltungen der Weg zu Agroforstsystemen zur Förderung der biologischen Vielfalt weiter ausgestaltet.